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Aphorismen und Texte zu Liebe, Leben und Religion

Befreit von der Liebe

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Dieser Text entstand im Rahmen des Essay-Wettbewerbs der Tageszeitung "Der Bund" zum Thema «All you need is love» - oder finden Sie das doof?

Ist der Mensch von „der Liebe“ befreit kann er sich auf das Mögliche beschränken

Als ich an „die Liebe“ glaubte, küsste ich zum ersten Mal ein Mädchen im Rosengarten. Die Nacht legte langsam ihre Dunkelheit über uns. Es war kalt an meinem 16. Geburtstag im Januar und mein „Herz“ glühte. Doch dies war eine andere „Liebe“, als jene, von der ich im Religionsunterricht gehört hatte. Die eine „Liebe“ war für die „Nacht“; die andere „Liebe“ war für den „Tag“. Die eine „Liebe“ drang aus meinem „Körper“, die andere „Liebe“ versuchte der ersten eine „Form“ zu geben.

Ich stellte mir damals vor, dass das weibliche Wesen, das mir so nah war, diese zwei “Lieben” ähnlich unterschiedlich wahrnahm. Und so empfand ich, als hätte ich es schon mit vier verschiedenen „Lieben“ zu tun. Doch damit nicht genug: Es herrschte Ab- und Aufbruchstimmung in diesen Nachbeben der 68ziger Zeit, in der auch die „Liebe“ befreit werden sollte. Doch auf die „ganz grosse Liebe“ musste ich noch warten und mich in Geduld üben. Ich spürte, dass der Entscheid darüber nicht in meiner „männlichen Natur“ lag. Nein, es kam mir vor, als läge der geheimnisvolle Schlüssel zur “ganz grossen Liebe” in den Händen der Weiblichkeit. So reifte ich bis nach der Volljährigkeit nach altem Recht (d.h. 20-jährig) und erst danach fand ich sie, die erste, “ganz grosse Liebe“ an der Alpenstrasse. Wir waren unsäglich verliebt und fühlten uns in tragender „Liebe“ verbunden. Parallel zur ersten “ganz grossen Liebe” hatte ich noch einen Beruf erlernt. Den beruflichen Abschluss schaffte ich und hielt das Diplom bald in den Händen. Aber mit der “Liebe” war es anders: Die flog davon wie ein Schmetterling.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“.

So glaubte ich weiter an „die Liebe“, suchte nach ihr und dachte, sie mit meinen Augen überall zu sehen. Doch erst wenn ein anderes Augenpaar auch glaubte, sie zu sehen, setzte sich „die Liebe“ wie von unbekannt gelenkter Hand gesteuert in Bewegung. Die Natur bemächtigte sich dieser beiden menschlichen Kreaturen, die durch die Begegnung ihrer Augenpaare wie verzaubert waren. Was hatte die „Natur“ im „Sinn“? Was passiert beim Homo sapiens in solchen Situationen im Gehirn? Jedenfalls erlebte ich diesen Zauber am Tavelweg und an der Hallerstrasse mit unterschiedlicher Dauer und Intensität. Doch erst am Zeigerweg waren wir so als Akteure auserkoren, dass die „Natur“ zu ihrer „Erfüllung“ kam. Verliebt zeugten wir wunschgemäss das erste Kind und bauten unser Nest.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“

War nun nach neun Monaten die bevorstehende Geburt eine weitere erfüllte Vorstellung unseres persönlichen „Liebesglücks” oder war es einfach die Frucht von weiblicher Eireifung und männlichem Samenerguss? Der Westwind wehte heftig grosse Wolkengebilde über die Stadt. Die Sonne zog sich immer mehr hinter diese zurück und zur Nacht gesellte sich der Regen. So wie das Wetter gestaltete sich auch die beginnende Geburt im Wesentlichen unabhängig von Menschenhand. Unsere Tochter liess sich Zeit mit ihrer Ankunft auf dieser Erde und musste mit Hilfe der Medizin dazu gezwungen werden. Statt im Geburtshaus geschah die Geburt im Spital. Statt Bauernhausatmosphäre herrschte organisierte Kliniksicherheit. Wir waren erleichtert, dass wir uns im operationssaalartig eingerichteten Geburtszimmer endlich durch die Hebamme mit ihrer Ruhe und Erfahrung begleitet und getragen fühlten. Sie gab uns Mut zur eigenen Kraft auf dieser letzten Etappe zur Elternschafft. Die Hebamme und wir waren für einen Augenblick zu einer persönlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden, als Teil des Flusses der Menschheit; schon weit weg von der Quelle und noch weit weg vom Meer.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“

Wie langsam grösser werdende Wellen brachen die schmerzenden Wehen über die angehende Mutter herein. Desgleichen verwandelte und verband mich dieser Wehenrhythmus immer mehr mit dem Geburtsgeschehen. Eine nicht zu beschreibende Teilhabe durchdrang mein Innerstes und sog mich selber mit. Ich fühlte mich wie in einem Reigen mit meiner Tochter verbunden, fühlte mich selber in einem Geburtskanal, der mich zum Vater werden liess; war ausgesetzt dem Wehenschrei oben auf der Welle und fühlte wie der Kopf durch seinen Druck auf den Muttermund alles zum Explodieren bringen sollte. Und als über eine längere Zeit keine Anzeichen für ein Fortschreiten der Geburt erkennbar waren, wussten weder Hebamme noch Ärztin, was nun passierte. Es war mir, als stünde ich vor einem dünnen, seidenen „Vorhang“; ich, hier, in meiner, unserer Welt – dahinter das ungeborene Geschöpf. Und dann begann sich dieser „Vorhang“ wie ein elastischer „Stoff“ zu dehnen, bis sich darin mit jeder Wehenwelle ein „vorhandener Riss“ immer mehr vergrösserte und mich plötzlich die Hebamme aufforderte und ich mich getraute, meine Hände mit brachialer Kraft von oben auf den Bauch, auf das Ungeborene zu pressen, bis „der Vorhang“ mit einem Ruck nachgab, das Kind hinausrutschte und bei uns ankam.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“

So etwas anderes war dieses Ereignis, so weit weg von dem, was mich im Rosengarten, am Tavelweg, an der Hallerstrasse „verzauberte“ und was am Zeigerweg von der „Natur“ aus zur Erfüllung kam. Und doch war dieser erhabene Schöpfungsakt schon dort, am Zeigerweg, angelegt. Schon dort kam dieser rhythmische Lebensatem in Bewegung, im Auf und Ab, im Hin und Her, im Rein und Raus, im Lauten und Leisen.

Aber auch die Geburt sollte nicht der letzte Akt sein auf dieser menschlichen Lebensbühne mit der „Liebeskulisse” im Hintergrund. Meine Mutter lag im Sterben und nach dieser Nachricht weckte ich beide Töchter morgens um halb fünf : „Kommt, zieht euch an, es ist soweit, das Grosi stirbt.” Hellwach erreichten wir noch in der frühmorgendlichen Dunkelheit einer Novembernacht das Zieglerspital: Regungslos lag meine Mutter, meiner Töchter Grosi, da mit einem Infusionsschlauch in ihrem rechten Arm. Laut und fest atmete sie ein, so als ob sie gerade ersticken würde. Leise strömte die verbrauchte Luft wieder heraus. Zuerst waren wir verängstigt, dann aber gewöhnten wir uns immer mehr an diesen rhythmischen Klang. Wir sassen still neben dem Grosi, hörten andächtig mit und begannen langsam eine andere Sprache am Ende des Lebens kennen zu lernen.

Kurz vor Schulbeginn meldete ich meine Töchter an diesem Morgen bei den Verantwortlichen ab. Da war nun eine andere Lebensschule angesagt. Ein anderer Stundenplan bestimmte das Geschehen, das noch eine Weile dauern sollte. Also holten wir am Nachmittag Liegematten, Schlafsäcke, Schul-, Spiel- und Malsachen. Wir quartierten uns im Zimmer 408 ein. Abends holten wir das Essen beim Chinesen. Langsam gewöhnten sich Pflegepersonal und Ärzte an unsere Präsenz. Nach vier Tagen hatten die beiden Töchter einen Rap-Tanz einstudiert: Dieser dauerte im Bettenlift vom 7. Stock bis ins 2. Untergeschoss.

Das Grosi atmete immer schwerer und am 5. Tag gab ich die Anweisung , die Infusion zu entfernen. Welche Ähnlichkeit hatte dieses Ableben mit einer Geburt. Beides sind vorgegebene Lebensakte der Natur, beidem zu Grunde liegend ist ein Geschlechtsakt. Begonnen hatte alles durch die Begegnung zweier Augenpaare, beim Suchen „der Liebe“. Am 9. Tag atmete das Grosi ein letztes Mal und wir waren alle dabei. Sie war mein Ursprung. Und auch sie hatte einen Ursprung. Wann es damit begonnen hat, wann es damit enden wird, können wir nicht wissen. Auch die „Natur“ weiss es nicht, auch „die Liebe“ weiss es nicht, denn es gibt sie nicht. Die Liebe ist nur ein Gedanke, eine Vorstellung, so eigen wie jeder Mensch selbst.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“

Was war geschehen, dass ich heute wirklich ernsthaft „die Liebe“ abstreite und sie somit gar nicht das höchste Gut auf Erden sein kann? Als die erstgeborene Tochter mit 11 Jahren am Küchentisch mit ihrer Freundin über Verliebtheit und „Liebe“ sprach, dachte ich leicht überheblich, aber mit verständnisvoll väterlicher Nachsicht: „Schon krass, wie diese Kinder schon so überzeugt über die “Liebe” sprechen“. Als ich mich innerlich mit der “Liebe” auseinanderzusetzen begann, um eine kindgerecht abgestimmte Meinung beizutragen, verhedderte ich mich in diesem Vorhaben. Ich versuchte mich in die beiden Mädchen zu versetzen. Welches konnte ihr Erfahrungsschatz darüber schon sein? Ihre Vorstellungen und Gefühle zur “Liebe” stammten aus ihren Beziehungen zu Plüschtierchen, zu den Rennmäusen, zu uns Eltern, aus Geschichten in Büchern und Filmen in denen das Küssen schon allgegenwärtig war. Bei allem hätten sie zu Recht von „Liebe“ sprechen können, und erst recht dann, wenn die „Natur“ mit ihnen in der Pubertät Achterbahn fahren wird. Ernüchtert stellte ich fest, dass es einfach nicht mehr gelingen wollte, mir darüber klar zu werden, was „die Liebe“ sein soll. Vom Rosengarten über die Alpenstrasse und den Zeigerweg bis heute hatten sich meine Liebesvorstellung dermassen verändert, dass ich spürte: Das waren meine Geschichten und Vorstellungen von “der Liebe”. Diese Kinder werden ganz andere “Lieben” erleben.

Erst wenn der Mensch darüber sprechen und schreiben lernt, entsteht eine Vorstellung der “Liebe“

David, der Mönch, Adelboden Schwandfälspitz, 27. Dezember 2014

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Die Gewinnerinnen und der Gewinner des Essay-Wettbewerbs:

  1. Die achte Plage von Romana Ganzoni
  2. Club der gebrochenen Herzen von Marie T. Martin
  3. Hannah von Peter Weibel